
Albertini, Francesca: Das Verständnis des Seins bei Hermann Cohen
Vom Neukantianismus zu einer jüdischen Religionsphilosophie. Obwohl sie als spezifisches Untersuchungsobjekt explizit nicht thematisiert ist, zieht sich die Seinsproblematik als eine Art Leitmotiv durch das ganze Cohensche Schaffen, von der Marburger Zeit bis zu seinem Weggang nach Berlin, d. h. vom sogenannten 'kritischen Rationalismus' bis zur 'religionsphilosophischen Periode'. Die Autorin arbeitet heraus, dass von einer Zäsur in der Entwicklung der Philosophie Cohens nicht gesprochen werden kann; dass es sich vielmehr gleichsam um eine Akzentverschiebung in seiner eigenen Forschung handelt. - Die Arbeit widmet sich einem der Schlüsselbegriffe des philosophischen Denkens des 20. Jahrhunderts - dem des Seins - und erkundet ihn bei einem scheinbar am Rande stehenden Philosophen im Ausgang des 19. Jahrhunderts, der gleichwohl eine Denktradition beginnt, die über Franz Rosenzweig bis u.a. Emmanuel Levinas. Im ersten Kapitel arbeitet die Verfasserin die Rolle der Seinsproblematik in ihren Beziehungen zu den Teilen des Cohenschen philosophischen Systems (Logik, Ethik und Ästhetik) aus. Die chronologische Ordnung der Werke wird dabei zugunsten einer systematischen Rekonstruktion teilweise verlassen. Um aufzuzeigen, wie das Verständnis des Seins am Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Problem der geschichtlichen Existenz verknüpft ist, konzentriert sich das zweite Kapitel auf "Der Begriff der Religion im System der Philosophie" (1915), um darzulegen, inwieweit die Änderungen in der philosophischen Ausrichtung Cohens im besonderen von der historischen und sozialen Situation der Wilhelminischen Gesellschaft sowie des damaligen Universitätsleben abhängen. In diesem ersten religionsphilosophischen Werk, dem freilich zahlreiche, dem jüdischen Denken gewidmeten Essays vorgegangen sind, profiliert sich allmählich eine Bestimmung und eine Rolle der Seinsproblematik, die zur Marburger Zeit im Cohenschen Denken nur in nuce gegenwärtig war. Das dritte Kapitel ist als Exkurs gedacht und untersucht das Verb "Sein" im hebräischen und griechischen Denken mit philologischen, komparatistischen, semantischen und historisch rekonstruktiven Mitteln anhand ausgewählter und kommentierter Bibelstellen im Vergleich zu entsprechenden Begriffen des Platonischen und Aristotelischen Textkorpus. Dabei ist es von großem Belang, den Begriff des Seins mit dem der Zeit zu verknüpfen. Diese komplexe Verbindung sowohl im jüdischen als auch im griechischen Denken zwischen Sein und Zeit erlaubt es, den problematischen und vielschichtigen Entwicklungsgang der Cohenschen Seinsproblematik zu begreifen. Im vierten Kapitel zeigt die Untersuchung des nach dem Tode erschienenen Werks "Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums" (1919), wie die enge Verbindung zwischen Seins- und Ethikproblematik eine neue Interpretation des Verhältnisses zwischen Glauben und Vernunft, zwischen Religion und Philosophie ermöglicht. 212 Seiten, broschiert (Epistemata. Reihe Philosophie; Band 335/Königshausen & Neumann 2003)