
Müller, Michael: Die Verdrängung des Ornaments
Zum Verhältnis von Architektur und Lebenspraxis. Der Verlust ästhetisch signifikanter Einzelformen wie des Ornaments ist heute in der Architektur deutlicher offenbar denn je. Zu fragen ist, was die bürgerliche Gesellschaft im Verlauf des 20. Jahrhunderts in ihren Bauten an die Stelle des vormals so außerordentlich beliebten Ornaments eigentlich hatte setzen wollen, was sie schließlich an dessen Stelle gesetzt hat und was sie künftig statt seiner zu setzen in der Lage sein wird. Der Verzicht aufs Ornament in der Architektur zu Beginn des 20. Jahrhunderts ging einher mit dem Durchbruch technologisch gesteuerter Rationalisierungsprozesse und des Prinzips der Zweckrationalität in allen Bereichen menschlichen Handelns. Der Zweifel an der ästhetischen Form des Ornaments, das einst den Widerspruch zwischen den individuellen Bedürfnissen und der sozialen Wirklichkeit für die Menschen hatte mildern sollen, hat sich mehr und mehr zu einer ersatzlosen Preisgabe der ästhetischen Form verhärtet. Andererseits büßte das Ornament dadurch an Bedeutung ein, daß die mit ihm verknüpften Vorstellungen, Wünsche, Träume nunmehr in der gesellschaftlichen Praxis eingelöst werden sollten Ansätze dazu hat es in den zwanziger Jahren vereinzelt gegeben. Zu fragen ist deshalb nach den Bedingungen, unter denen z. B. der Wunsch nach erfahrbarer Individualität nicht in abgeschiedener Privatheit, sondern im Rahmen einer solidarischen Lebenspraxis und einer ihr adäquaten Architektur- bzw. Wohnform Erfüllung finden kann. In der Verdrängung der ästhetischen Form allerdings, die für die gegenwärtige Architektur charakteristisch ist, wird die für die Entfaltung menschlicher Hoffnung auf eine human organisierte Lebenspraxis überaus wichtige Erinnerung an das, was in der Geschichte auf seine Transformation in dem Alltagszusammenhang wartet, zerstört. 319 Seiten mit 51 Abb., broschiert (edition suhrkamp 829/Suhrkamp Verlag 1977)
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