
Schäfer, Armin: Biopolitik des Wissens
Hans Henny Jahnns literarisches Archiv des Menschen. Die Texte Jahnns sind Speicher eines Wissens vom Menschen, und mit ihnen tritt eine Poetologie des Wissens vom Menschen hervor. Versucht die Analyse einer Poetik des Wissens, nach Jacques Rancière, eine "Untersuchung aller literarischen Verfahren, durch die eine Rede sich der Literatur entzieht, sich den Status einer Wissenschaft gibt und ihn bezeichnet", so soll die Rekonstruktion einer Poetologie des Wissens die Strategien beschreiben, mit denen eine Rede, die sich gerade der Literatur zu entziehen sucht, wieder in den Raum der Literatur zurückgeholt wird. Gegenstand einer Poetologie des Wissens sind also die Produktionsbedingungen von Wissen und die Strategien, mit denen Wissen in einen literarischen Text inkorporiert wird. Mit den Schlagwörtern "Das Wissen vom Menschen", "Anatomien", "Physiologie des Verbrechens", "Hormone", "Biospeicher", "Züchtung" und "Krieg" rekonstruiert der Band Hans Henny Jahnns Poetologie des Wissens. Seine Texte implizieren eine Poetologie des Wissens vom Menschen, die sich nicht entlang von Disziplingrenzen und institutioneller Verankerung ausbildet, sondern um die Erfahrung des Körpers gebündelt ist. Eine Poetologie, die versucht, den Ergebnissen der Naturwissenschaften Rechnung zu tragen und an die Tradition einer anthropologischen Literatur anzuknüpfen, wie sie mit den gegen-klassischen Entdeckungen um 1900 (Jean Paul, Kleist, Büchner) assoziiert ist. Am Leitfaden der Körpererfahrung durchmisst Jahnn die Räume des Wissens der Anatomie, der Physiologie, der Endokrinologie, der Neurophysiologie, der Eugenik, der Rassenkunde und der Kriegstechnik. In all diesen Disziplinen und Praktiken findet im 20. Jahrhundert eine quantitative Explosion des Wissens vom Menschen statt, die wiederum eine permanente Anreizung zu Diskursen produziert. Diese Intensivierung der Wissensproduktion vollzieht sich unter der Signatur einer Biopolitik. In jenes Feld der Biopolitik ist Jahnns Literatur verstrickt. Dabei nimmt Jahnn weder einen privilegierten Ort noch automatisch eine kritische Perspektive ein. Gegen die angewandte Biologie des Nationalsozialismus mit dessen Exzessen der Operationalisierung insistiert Jahnn jedoch immer auf einer ethischen Perspektivierung des biologischen Wissens. 347 Seiten mit 9 Abb., broschiert (Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft; Band 167/Königshausen & Neumann 1996) leichte Lagerspuren